Bus Nr. 7

 


Von Florenz nach Fiesole

Der Bahnhof, Stazione Centrale di Santa Maria Novella, Hauptbahnhof der Stadt Florenz, ist der Beginn einer der berühmtesten Buslinien, der Buslinie Nr. 7 nach Fiesole.

Fiesole, die Endstation dieser Linie, ist ein entzückender Bergort, hoch über der Stadt Florenz.

Dieser Bus sammelt seit Jahrzehnten in Florenz alle ein, die einmal der Enge, der Hitze und dem grausamen Lärm der mittelalterlichen Stadt entfliehen wollen, Florentiner und Touristen.

An den Endstellen, Stazione und Fiesole, herrscht Gedränge und meist steigen die Leute schon dann in den überfüllten Bus ein, wenn die Ankommenden noch beim Aussteigen sind, um einen der wenigen und begehrten Sitzplätze zu erkämpfen.

Im Winterhalbjahr besteht der den Busraum füllende Geruch aus Mottenkugeldünsten mit einem leichten Hauch von älterem Knoblauch; die überwiegende Sprache, neben Italienisch natürlich, ist schweizerdeutsch, amerikanisch, hochdeutsch und japanisch. Wie es wohl in der Hitze eines Augusttages im Bus ist, braucht man wohl nicht zu erklären.

Pünktlich alle zehn Minuten geht’s los. Lange warten muss man also nicht.

Der Bus quält sich zunächst in einem Gewühl aus Motorini, Stadtbussen, Autos und auch Pferdekutschen vom Bahnhof durch die Altstadt von Florenz, die Via Panzani und Via Cerretani entlang, biegt direkt am Baptisterium und Dom Santa Maria del Fiore nach Norden in die Via Martelli, die spätere Via Cavour, vorbei am rustikalen Stadtpalast der Medici-Riccardi, um zum letzten Mal in der Stadt die größte Menge an Passagieren an der Piazza San Marco aufzunehmen.

Bei Dunkelheit leuchten die vielen kleinen Läden in der Via Cavour ganz anheimelnd aus den kolossalen Fassaden.

Die Bushaltestelle Piazza San Marco befindet sich direkt gegenüber dem Eingang des berühmten Klosters gleichen Namens. Um die Ecke in der Via Ricasoli steht nur wenige Schritte weg der monumentalen David Michelangelo Buonarrotis in der weltbekannten Galleria dell' Accademia. Viele Studenten trifft man hier vor dem Hauptgebäude der Università degli Studi.

Am Bahnhof steigen auch die südamerikanischen Taschendiebe zu, der König der Diebe mit seiner Freundin, er, der einen auffälligen Brillantring am Ringfinger trägt, dirigiert den eigentlichen Dieb, einen italienischen Drogenabhängigen, mit diskreten Fingerzeigen und Blicken. Die glasigen Augen des Junkies, der in der einen Hand eine alte Zeitung hält, unter deren Schutz er sich an den Handtaschen der weiblichen Touristinnen zu schaffen macht, um die Geldbörse herauszuangeln. HGE starrt ihn ganz ohne zu zögern die ganze Zeit an, damit er von seinem schändlichen Tun ablassen möge. Er weiß, dass HGE weiß, dass er ein Dieb ist. Die Augen von Taschendieben streifen nämlich stets unruhig durch den Raum, heften sich dann an die Ausländer und deren Taschen. Dadurch fallen sie auf. Die Augen bleiben auf ihrem Zielobjekt stehen. Denn alle anderen schauen ruhig aus dem Fenster oder zu den anderen Passagieren, lesen, unterhalten sich. Die Taschendiebe kümmert es nicht, dass erfahrene Busfahrer sie als Diebe identifizieren.

Am Piazza Duomo kommen dann – wie stets - die jugoslawischen Zigeunerinnen hinzu, meist jung und schwanger, und greifen ganz ungeniert bei den Amerikanerinnen, Australierinnen, Japanerinnen, schweizerischen und deutschen Touristinnen in die Umhängetaschen. Diese sind dem impertinenten Treiben meist hilflos ausgeliefert. Sie scheinen völlig ahnungslos zu sein. Erfahrenere Mitfahrer halten ihre Sachen stets fest an sich geklammert und Couragierte flüstern oder raunen, je nach Temperament, den Ahnungslosen – unter eigener Gefahr – etwas zu.

„Scendi, scendi“, „raus, raus“, „sei una ladra“, „du bist eine Diebin“ schreit die gut angezogene ältere, füllige Signora die Diebesbande unverhohlen an. Jetzt kommt es zu einem enormen Aufruhr im überfüllten Bus, einem großen Lamentieren, sogar der Busfahrer hält unvermittelt an und droht vom Steuer aufstehend mit der Polizei.

Gott sei Dank, an der Piazza San Marco steigen die Zigeunerinnen entnervt aus. Nachdem sich die letzten Passagiere hineingezwängt haben, der Bus ist wie immer überfüllt, kehrt wieder Ruhe ein. Zwischen den Wissenden wird noch munter diskutiert. Die junge Studentin schreibt auf kleine gelbe Zettel in Englisch und Italienisch: „pickpockets on the bus“, „borsaioli in bus“. Diese klebt sie überall hin.

Der Jüngling mit den blonden Locken, der neben HGE auf seinem Koffer hockt, reagiert ganz entgeistert, als HGE ihn auf Deutsch auf die verschiedenen Taschendiebe im Bus hinweist. „Das habe ich gar nicht mitgekriegt, oderrr“, fragt er im typischen Schweizerdeutsch. Warum die Schweizer jeden Satz mit „oderrr“ beenden, ist HGE seit jeher schleierhaft.

Spätestens an der Bushaltestelle Piazza della Libertà steigen auch die südamerikanischen Taschendiebe mit ihren italienischen Abhängigen aus. Von hier nehmen sie wieder einen anderen Bus zurück zum Bahnhof.

In der Via Lamarmora, der Straße mit dem wohlklingenden Namen, mit den vielen angenehmen Vokalen, geht der Blick aus dem Busfenster in den Orto Botanico (Botanischen Garten) der Universität. In riesigen Terracottatöpfen blühen rotfarbene Azaleen. Bäume spenden Schatten. Schon 1545 hat Cosimo dei Medici diesen „Giardino di Semplici“ herrichten lassen, um Medizinalpflanzen für die universitäre Ausbildung der Ärzte zu züchten. Nicht immer gelingt der Blick aus dem übervollen Bus in das gepflegte Grün dieser raren städtischen Oase. Wie dünne Würste hängen die vielen langen Arme der Buspassagiere dicht gedrängt in den Halteschlaufen.

Hat nicht auch der HGE bekannte Anwalt, Avvocato V., in der Via Lamarmora sein winziges Studio. Durch ein dunkles, imposantes und riesiges Treppenhaus im Renaissancestil gelangt man zu ihm. Der knapp sechzigjährige Junggeselle, der noch immer bei seiner alten Mutter lebt, sieht mit seinem Drei-Tage-Bart wie der italienische Sänger Paolo Conte aus: Wohlbeleibt vom vielen, üppigen toskanischen Essen, die Nase vom Chianti Classico rot und angeschwollen, die wässrig blauen (deutschen) Langobardenaugen blicken aus einem Mussolinischädel, sein grauer Anzug ist zerknittert, einwenig wein- und soßenbesprenkelt. Da Signore V. Fleisch nur als Bistecca Fiorentina (T-Bone-Steak) auf offenem Feuer gegrillt zum Mittagessen isst, muss Mama in der Küche ohne Rauchabzug, bei geöffnetem Fenster, immer ein Grillfeuer entzünden, um das Fleisch nach florentiner Art zu garen. Eine italienische Mama zu haben, muss etwas Wunderbares sein!

An der Piazza della Libertà endete die mittelalterliche Stadt in Richtung Apennin und Bologna. Hier steht ein großes Stadttor „San Gallo“ und ein Arco di Trionfo von 1787 umrundet von Lindenbäumen. Hier liefen früher die Stadtmauern zusammen, und heute die einzige Ringstraße um die Altsstadt. In den ruhigen Jahren nach dem Kriege bis weit in die siebziger Jahre strahlten die hohen Arkadengebäude italienische Grandezza aus. Hier bummelte man im Schatten oder auch vor Regen geschützt von Ladengeschäft zu Ladengeschäft. Zeitungen, Post, schöne, gut sortierte Geschäfte und die weitbekannte Rosticceria (Garküche) "Galanti". Appetitliche Speisen zum Mitnehmen.

Konnte HGE nicht in den sechziger und siebziger Jahren hier wunderbar problemlos vor dem Stadtzentrum seinen Volkswagen parken. Heute wird der weite und vornehme Platz von Massen von Autos, Lastwagen, Motorrädern und Bussen in einem irrwitzigen Wirbel umrundet.

Nach der Piazza della Libertà nimmt der Bus Richtung Fiesole die alte und schattig dunkle Viale Minzoni bis zur engen Eisenbahnhufeisenbrücke. Die Eisenbahnstrecke Florenz Rom wird überquert. Das ist ein weiterer Verkehrsengpass. Hier kann der Florenzbesucher die eigenen Autofahrkünste und den eigenen Mut beweisen. Es gilt die Devise: standhalten oder weichen oder für immer nicht mehr in Florenz autozufahren. Das Verkehrsgetümmel, das sich aus drei wilden Fahrspuren auf eine verjüngen muss, um die Hufeisenkurve zu kriegen, nimmt jeden schonungslos in die Zange. Jeder kämpft gnadenlos gegen jeden, ganz im Sinne Darwins: Struggle for life.

Der Bus hält nun in der Viale dei Mille: „Allee der Tausend“ - im Andenken an die tausend Mitstreiter Garibaldis bei der Einigungsbestrebung Italiens Mitte des 19. Jahrhunderts - nicht weit von der Piazza delle Cure.

Auf der Piazza delle Cure wird täglich ein kleiner Markt veranstaltet. Normales Stadtquartiersleben: einkaufen, schwatzen, Obst und Gemüse in vielfältiger Form erwerben, immer als „nostrali“ ausgerufen: „aus eigenem Anbau“, auch Fisch und Lotto wird geboten. Die Alkoholiker und Drogenabhängigen sind auch da. Ein Eisendach schütz vor Regen und Sonne. Adelindo Tassi, der Maler aus Fiesole, hat die Szene düster unter dunklen Regenwolken in Öl gemalt. Regenschirme in blau und grün bestimmen die Kulisse, Marktbesucher in nasse Regenumhänge eingehüllt stehen vor den Verkaufswagen. Weil das Bild so melancholisch ist, und es nicht in die heitere Vorstellung der Toskana passte, es wohl deshalb niemand haben wollte, konnte HGE es ihm vor Jahrzehnten billig abkaufen. HGE schaut es gerne an.

In dem bunten italienischen Geschehen kann man schnell in der Bar einen Espresso trinken, ein Brötchen mit florentiner Kutteln aus einem offenen Handwagen kaufen, so im Vorbeigehen -. Dort ein Laden voller großer Laibe mit Parmigianokäse, in der Fermentaria (Haushaltswarenladen) gibt es von der Reißzwecke bis zum Pinselreiniger alles. Man muss als Ausländer jedoch den italienischen Namen wissen, da man in dem vollgestopften winzigen Laden nicht auf das Gewünschte zeigen kann. Bücher und Zeitungen, um die Ecke der Fornaio (Bäcker). Es duftet nach frischem Hefebrot, toskanische Laibe ohne Salz und großporig knusprig gebacken. Für den Heimweg gibt’s in die Hand ein Stückchen Scacciata (Hefefladen) warm aus dem Ofen mit toskanischem Olivenöl und handgesalzen.

Auch an der Piazza locken zwei appetitliche Rosticcerie: delle Cure und Alfi. Über dem offenen Holzfeuer drehen sich mit Salbei gefüllte Brathühnchen, die hin und wieder mit einer brennenden Zeitung abgefackelt werden, Stielkotelette umwickelt mit frischem Rosmarin, viel Salz und Knoblauch sowie riesige dunkel gebratene Roastbeefstücke. Innen zart rosé und voller Saft. Dazu frisch aus dem Öl: una razione di patate fritte. Auch per il Primo eine Aluschale mit gerade fertig gewordener Lasagne aus dem Backofen. Dann ist alles bereit, um sich auf ein schönes Mahl zu freuen.

Der Bus nimmt wieder Fahrt auf, nun schon merklich leerer. Die einstmals wohlhabende Via Volta entlang. Stattliche Einfamilienhäuser im typisch florentiner Stadtstil säumen den Weg. Flache rote Ziegeldächer, zwei Geschosse, toskanisch ockergelbe Fassaden, Fenster mit grünen oder braunen Fensterläden direkt am unteren Rand der Hügel von Fiesole. Der Bus hält dann noch einmal unten, in Florenz, an der kleinen Piazza „Edison“. Hier sitzen Ältere unter schattigen Pinien.

Nun steigt die breite und helle Via San Domenico auf kurvenreicher Panoramastraße hoch bis zum Bergort Fiesole. Die Straße umkurvt imposante Villen, verwunschene Gärten. Hinter hohen Mauern schauen Zypressenspitzen hervor.

Nach jeder Biegung ein traumhafterer Blick auf die Stadt Florenz und die toskanische Landschaft bis weit in den Süden. Gegenüber am Hang der weltberühmte Balkon über Florenz „Piazzale Michelangelo“ und unten am Fluss die großartige Kuppel des Doms im milden Rot. Bei klarem Wetter erblickt man die fernen Türme von Impruneta und weit im Süden an ganz klaren Tagen den Monte Amiata.

In allen Sprachen Ausrufe des Entzückens, Fotoapparate klicken!

HGE hofft immer, dass der Bus auf der steilen Rampe nach Fiesole hoch nicht zu oft halten muss, denn das langsame Anfahren des Busses nach dem Halten erzeugt bei den für den ebenen Stadtverkehr konstruierten Bussen einen infernalischen Lärm. Man versteht seine eigenen Worte nicht mehr, und oben angekommen ist man wie benommen.

In weit geschwungenen Kurven windet sich die Strada panoramica, die 1840 vom Großherzog Leopold dem II. eröffnet wurde, durch die offene Gartenlandschaft der großen und uralten toskanischen Villen. Seit der Etruskerzeit wird am Hügel von Fiesole bevorzugt gewohnt: Etrusker, Römer, auch Langobarden von der deutschen Niederelbe, Toskaner und Italiener, Deutsche und Engländer wohnten und wohnen heute hier.

Der Klosterort, San Domenico, auf halber Höhe wird erreicht.

Der Bus hält gegenüber einem Brunnen. Auf einem winzigen „Tortenstück“ Grünanlage findet sich ein schmaler aus Stein gebauter Wasserspender. An den beiden Seiten kann der Besucher folgendes lesen:


Fonte di mediazione

Fonte di mediazione
e d’opere fu la
bellezza dei luoghi

Quelle der Meditation
und der Werke
war die Schönheit des Ortes
a
Fra Giovanni Angelico
Leonardo da Vinci
I Ferrucci
Marsilio Ficino
Lorenzo il Magnifico
Agnolo Poliziano
Pico della Mirandola
Francesco Redi



Da questi colli ove abitarono
trassero ispirazione e letizia

Von diesen Hügeln, wo sie wohnten,
gingen Inspiration und Glückseligkeit aus
a
Allesandro Dumas
Anatole France
Arnold Böcklin
Walter Savage Landor
Lion Devebel
Maurice Denis
Vernon Lee
Thomas Gray



Heute parken die hässlichen Autos hier, Taxifahrer waschen ihre Lederlappen.

San Domenico. Schon Fiesole und nicht mehr Florenz. Auf der langen Mauer vor der Bushaltestelle sitzen bequem die Besucher und Wartenden. Die auf den Bus Wartenden lassen Ihre Beine zur Straße hin baumeln, die anderen schauen in das weite Hügelland des Arnotals, in die Gärten und Orti (Gemüsegärten). Sehen von hier die dunklen Zypressen und die Bauern, die unzähligen Olivenbäume pflegen. Der Fluss Arno schlängelt sich lichtspiegelnd durch die Berge in Richtung Pontassieve.

Alles, was ein winziger Ort so zum Leben braucht ist vorhanden: natürlich eine Kirche, ein Friedhof, die Poststelle, an der Straßenecke eine Bar für einen schnellen Capuccino mit einem frischen Hefebrioche, auch die Buskarte kann man hier bekommen, Biglietto multiple, 4 Fahrten, daneben in Reihe hintereinander winzige Lädchen ein abschüssiges Sträßlein hinunter: ein Alimentari (Lebensmittel): Brot, Käse, Wurst, Pasta, Wein, eine Marcellaria (Fleischerei), una Pescatoria (Fischladen), sogar durchgesessene Stühle kann man hier aufpolstern lassen.

Gegenüber der Hauptstraße eine nach offenem Holzfeuer riechende Pizzeria, mit in der schönen Jahreszeit Tischen und Stühlen unter einer großen Markise, daneben ein winziger Zeitungsladen und unter geschnitten Landstraßenlinden ein Altenheim, versteckt hinter einer hohen Mauer mit einem filigranen Eisentor.

Gegenüber der Kirche stürzt eine steile Straße in das Tal des Flüsschens Mugnone, um auf der anderen Seite genauso steil wieder zur Via Bolognese hinaufzustreben. Es ist, beziehungsweise war, immer ein kleines Abenteuer für den Autofahrer das tiefe Tal vor sich zu sehen, hinunter zu fahren, es zu durchqueren und auf der anderen Seite wieder heil oben anzukommen. Halten die Bremsen? Schafft es der Motor? Heute werden nur noch die vom Mugnonetal Heraufkommenden zugelassen. Einbahnstraße. Von San Domenico aus muss man einen langen Umweg nehmen.

In der östlich gelegenen Ferne blitzelt der Schnee auf dem mächtigen Bergrücken des eintausendvierhundert Meter hohen Pratomagno bei Arezzo.

Unter den Straßenlinden mit den im Herbst so vielen raschelnden gelben Blättern duckt sich ein kleiner Zeitungskiosk. Hier kann HGE die neuesten Zeitungen aus aller Welt kaufen. „Frankfurter Allgemeine, Die Welt, den Spiegel“, alles da! Sie haben auch immer „Die Zeit“. Nur hundert Schritt von hier, ein Stück hinunter ins Tal des Mugnone, im ehemaligen Kloster Badia Fiesolana, werden die klügsten europäischen Doktoranden unterrichtet. Hier befindet sich das zentrale Europäische Institut der Europäischen Union. Der Zeitungskiosk hat sich darauf eingestellt.

In der Chiesa di San Domenico haben die Fratres das berühmte Bild von Beato Angelico „Madonna mit Kind“ aufgehängt. Im Frühjahr ist der Kirchenraum kalt, dunkel und muffig. Das berühmte Bild aus dem 15. Jahrhundert ist nicht zu erkennen. Betritt der Besucher die Kirche erscheint sogleich aus dem Dunkeln ein greiser, bleicher Mönch im weißen Ornat. Man möchte vor dem dem Tode nahen erschrecken. Doch schon schaltet er ein elektrisches Licht an und erleuchtet die wunderbare Madonna mit dem Kind vor einer mittelalterlichen Landschaft. Ein paar Worte werden gewechselt. Im schwer verständlichen Italienisch erklärt der Dominikaner einiges. Jetzt sollen ein paar Münzen in den Kasten geworfen werden, und dann ist HGE froh, wieder im Leben und der frischen und sonnigen Frühjahrsluft zu sein.

Zehn Schritt von hier aus, links am steilen Berghang, mündet die „Vecchia Fiesolana“, die uralte, antike Straße hinauf nach Fiesole.

Sie ist so schmal, dass nur ein Fahrzeug sie jeweils befahren kann und so steil, dass man sich fragt, wie früher Menschen und Sachen hinaufgeschafft werden konnten.

Wenn oben in Fiesole die wenigen deutschen aktuellen und interessanten Zeitungen ausgegangen sind, dann geht HGE mit größtem Vergnügen die Vecchia Fiesolana hinunter zum Kiosk am Europäischen Institut und nach dem Zeitungserwerb wieder bergauf. Das sind so jeweils zwei Kilometer steilster Straße. Das ertüchtigt den Körper wirklich. Ein wundervoller Weg, herrliche Blicke. Die Villengärten sind von hohen Mauern umgeben. Glyzinien hängen lila blühend in verschwenderischer Fülle herüber, in der Kurve vor der Villa Medici blühen die blauen Lilien zu Ostern, im späten Herbst kullern die reifen Oliven den Weg hinab, und HGE muss aufpassen, dass er nicht auf dem öligen Film ausrutscht. Auf Villen mit imposanten Parks schaut der Wanderer: „Villa Riposo dei Vescovi“ (Ruheort der Bischöfe) und „Villa Papiniano“.

Da die Florentiner nicht gerne zu Fuß gehen, jagen sie mit dem Auto das enge und mauerngesäumte Sträßlein rauf und runter und sind überrascht HGE als Fußgänger hier anzutreffen. In hoher Gefahr quetscht sich HGE dann in die Ecken und Einbuchten von Mauern und Eingangstoren, schaut vorsichtig um Hausecken, hört aufmerksam auf näherkommende Fahrgeräusche. Trotz aller Gefahren ist die Vecchia Fiesolana ein begeisternd attraktiver und seit Jahrtausenden von Menschen genutzter Weg.

Der Bus Nr. 7 schwingt seitab auf der breiten Panoramastraße „Giovanni Mantellini“ weit aus.

Zweite Haltestelle nach San Domenico: „Via Böcklin“. Eine schöne toskanische Strada bianca (mit Marmorstückchen belegter Feldweg) schmiegt sich den Hangeinschnitt an einer hellen Trockenmauer unter Olivenbäumen und blauer Iris entlang zu einem stattlichen Häuserensemble, der Villa Bellagio, in dem der bekannte schweizer Maler Arnold Böcklin bis 1901 lebte.

Nach der engen Haarnadelkurve, Curva Regresso, auf halber Höhe, Abzweig nach Maiano, ist die Haltestelle für die Gäste der feinen Hotels „Villa Fiesole“ und „Villa San Michele“ sowie der pittoresken Pension Bencistà. In die steigen die Seelenmenschen ab! Der Ort wird auch „Largo Leonardo da Vinci“ genannt. Der geniale Jahrtausendmensch führte etwas oberhalb von hier, auf dem Monte Ceceri, seine Flugversuche durch.

La Pensione Bencistà ist eine in aller Welt renommierte Herberge, eine burgähnliche Anlage mit Efeuzinnen und bordeauroter Fassade, das bevorzugte Refugio für Künstler, Literaten und intelligente Reisende. Toskanisches, herrschaftliches Ambiente. „Camera solo con mezza pensione“, italienisches Frühstück und toskanische Cena im alten Rittersaal. War nicht auch Churchill da? Sitzt er nicht noch immer dort im weichen Ledersessel, ein Buch in den Händen und raucht seine Zigarre? Seit seiner Zeit hat sich im Hause nichts mehr geändert.

Als nach dem Tode der Signora die Erben die Pension mit dem atemberaubenden Blick auf Florenz verkaufen wollten, meldete sich Protest von Menschen aus aller Welt. Es gingen empörte Briefe und E-Mails aus Los Angeles, Paris, Oxford und München ein. Die La Nazione, die Zeitung für Florenz, berichtete über den weltweiten Protest. Nun wird die Pensione weiter betrieben.

In der blauen Stunde sitzt man vor der mächtigen Villa auf einer der vielen kleinen, engen und von Wein und anderen Kletterpflanzen umwucherten Terrassen, genießt den bezaubernden Blick in das milde toskanische Abendlicht, in die darin versunkene rot-ocker farbene Stadt Florenz. Tiefroter Chianti wird ausgeschenkt, Rosmarin und Lavendel verströmen berauschendes Aroma, am dunklen Himmel umkreisen herumwirbelnde Fledermäuse das Gemäuer.

Ein Stückchen weiter die Straße hinauf, hier steigt niemand aus dem ordinären Bus, thront unter Zypressen auf einer Hangterrasse eines der teuersten Hotels Italiens, Villa San Michele. Hierher wird man mit dem Rolls-Royce vom florentiner Flugplatz „Amerigo Vespucci“ abgeholt. Jane Fonda hat hier ihren Honey Moon mit wer weiß wem gefeiert. Ursprünglich ein altes Kloster, Michelangelo soll die Fresken gemalt haben; ein Gast, zwei Bedienstete. Millionen Lire, hunderte Euros für eine Nacht!

Heute steigt doch tatsächlich eine junge Frau, nicht besonders hübsch, die Kleidung einfach, in den Bus. Sie holt aus ihrer Tasche einen kräftigen Einband heraus, der sich als Notenbuch darstellt, und beginnt im Siebenerbus an vernehmlich zu summen, dann leise zu singen. Joseph Haydn: Die Schöpfung. Es ist Osterzeit. Die junge Frau ist vermutlich auf dem Weg zur Gesangstunde oder zur Probe, und übt. Im Beisein der vielen Buspassagiere, die andächtig und einwenig ergriffen lauschen. Das Notenbuch ist sehr sorgfältig mit in Bleistiftschrift geschriebenen Noten ausgefüllt.

Lustig anzusehen sind die amerikanischen Mitfahrer. Immer heiter und „gut drauf“. Trotz des kühlen Tramontanawindes vom Balkan sind sie wie für Mexiko angezogen. Bermuda-Shorts und T-Shirts bei 14 Grad und bedecktem Himmel im typisch toskanischen Frühjahr. Der Ältere mit den Silberhaaren zieht seine Brieftasche hervor, und, unter großem Gejohle seiner Begleitung, entfaltet sich eine endlose Reihe von Kreditkarten bis zum Boden des Busses.

An der Haltestelle "Villa Kraus", einer Villa mit rosa Fassade und markanten Kastanienbäumen, eine Station nach der Abfahrt von Fiesole, steigt heute doch schon wieder die chic gekleidete ältere Signora zu. Sie ist eine sehr gepflegte Erscheinung. Die blondierten Haare sind kunstvoll frisiert.

Sie ist sicher eine Direktrice einer alteingesessenen Modefirma, angezogen im vergangenen Stil der Coco Chanel, mit großen goldenen Schmuckstücken und dem typisch gepunkteten Sakko mit Rock. Sehr businesslike! Wer sie sieht, denkt an die in den sechziger und siebziger Jahren berühmten florentiner Modehäuser Pucci und Leonardo.

Heute ist sie vertieft in ein Lehrbuch des Kartenspiels: Bridge. Noch studiert sie die ersten Seiten, ansonsten malt sie lange Kolonnen von Zahlen in ein dickes schwarzes Notizbuch.

Furchtbar steil ist hier die Straße, die Via Fra Giovanni da Fiesole detto L’Angelico. Der Bus muss sich quälen. Lavendel wächst über die Mauer. Der Blick geht weit. Villa Medici, Villa Ferragamo, berühmte Namen überall. Vor den letzten Kurven kann für einen Augenblick am Berghang ein Stück der alten etruskischen Stadtmauer erblickt werden.

Endstation! Fiesole, Piazza Mino, direkt gegenüber dem Dom. Klare, kühle Bergluft. Ruhe einer Kleinstadt! Von der Pizzeria Mario weht der Geruch von Eichenholzfeuer herüber.

Fiesole, 1991/2005/2019

P.S.

Für einige Jahre fuhr der Bus Nr. 7 von der Piazza San Marco ab.

Seit Anfang 2019 fährt der Bus Nr. 7 nun wieder vom Hauptbahnhof, der Stazione Santa Maria Novella, ab. Allerdings nimmt er eine andere Strecke durch die Stadt Richtung Fiesole. Abfahrt: Largo Fratelli Alinari - Piazza Stazione - Via Valfonda - Viale Filippo Strozzi - Viale Spartaco Lavagnini - Piazza della Libertà und von dort die alte Strecke. Erst auf der Rückfahrt passiert der Bus die Piazza San Marco im Zentrum von Florenz.

An der Piazza Mino in Fiesole beginnen Wanderwege/Spaziergänge:

Auf den Berg San Francesco in Fiesole (Blick auf Florenz) und Kloster

Monte Ceceri (Leonardo da Vinci/Flugversuch) CAI Club Alpino Italiano Nr. 1

in das Arnotal (über Settignano nach Compiobbi) CAI Nr. 1

in Richtung Apennin (Monte Fanna, Poggio Pratone, Vetta le Croci und Monte Senario (Kloster)) CAI Nr. 2 und Via degli Dei = Trans Apennin - Fiesole - Bologna

siehe auch Wanderung: Radagasius Geschichtswanderung Fiesole

Seit September 2017: "Il Sentiero di Stilicone" CAI Nr.: 10 Fiesole Piazza Mino - Montereggi - Olmo